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„Daher gehen wir jetzt mal die Homepage an. Ich möchte da lesen, dass wir auf dem Weg sind.“

    IM GESPRÄCH MIT DER KET-ARTIST IN RESIDENCE PATRICIA VESTER

    Patricia Vester begleitet das Projekt „Koloniales Erbe in Thüringen“ als Artist in Residence seit einigen Monaten. Zeit für ein erstes – öffentliches – Gespräch.

    Patricia Vester Ich bin Schwarze Deutsche, Mutter, Aktivistin, Illustratorin. Und aus dieser Position heraus habe ich den Auftrag als Artist in Residence angenommen und mich sehr darüber gefreut, weil ich hier eine Chance sehe, das Thema vertieft für den Kontext der Schulbildung recherchieren und bearbeiten zu können.

    Christiane Bürger Wir haben uns im Sommer 2022 im Rahmen der Dekoloniale in Berlin kennengelernt, auf der Du mit anderen Beteiligten das Buch „Das Museum dekolonisieren? Kolonialität und museale Praxis in Berlin“ auf einer Podiumsdiskussion vorgestellt hast. Im Anschluss habe ich Dir von unserem Projekt „Koloniales Erbe in Thüringen“ erzählt. Nur kurze Zeit später saßen wir zusammen mit Sahra bei einem Kaffee, um gemeinsame Ideen zu entwickeln. Wie hat sich die Arbeit mit dem Projekt „Koloniales Erbe“ für Dich seitdem entwickelt? Und welche Themen bearbeitest Du gerade?

    artist in residence: @patriciavester.illustrations

    Patricia Vester Mein ganz konkretes Arbeiten sieht gerade so aus, dass ich skizziere, begleitete, denke, zuhöre. Und dabei entstehen künstlerische Outputs ganz unterschiedlicher Art. Auf meinem Tisch liegen zum jetzigen Zeitpunkt – nachdem wir schon in verschiedenen Formaten zusammengearbeitet haben – ganz viele unterschiedliche Ansätze.

    Ich sitze in einem Meer von Output: unfassbar viele Skizzen, Interviewmitschriften, Schulkonzepte und Literatur sowie Artikel, aktuelle Dokumentationen zum Thema und Arbeiten verschiedener Decolonize Gruppen aus der Region.

    Ich habe einen lyrischen Rap Text geschrieben, um die aktuelle Situation in Thüringen für mich zu bündeln und um den Human Remains, die mir in Thüringen begegnet sind, eine Stimme zu geben. Da mir das ein wichtiges Anliegen ist, habe ich ihnen lyrische und noch zu illustrierende Biografien geschrieben.
    In den Schulworkshops, die ich konzipiert und gestaltet habe, sind Dinge entstanden, die insbesondere die Forderungen der BIPoC-Community an das deutsche Schulsystem widerspiegeln. Diese müssen auch in das Projekt einbezogen werden. Es gibt einen Graphic Novel-Ansatz, der in unzähligen Skizzen auf dem Tisch liegt – ziemlich wirre Skizzen, die erst am Ende sauber ausgearbeitet werden. Ich lasse die Arbeiten erst los, wenn ich zufrieden bin, mich damit wohl fühle und das auch noch später gut finde. Und dann spreche ich mich auch mit meinen Partner:innen ab: Wie seht ihr das? Wie lest ihr das? Und ganz wichtig: Ich versuche zu filtern. Wer braucht was? Für wen stehe ich hier in dieser meiner aktuellen Position? Und was nehme ich mit? Und was will ich teilen? Und dabei reflektiere ich ständig: Mache ich das als Autorin, mache ich das als Aktivistin? Mache ich das als Schwarze Deutsche? Mutter? Als Betroffene? Das muss gerade sortiert werden. Das sieht man auch in dem Bild, das wir im Rahmen dieses Interviews hier auf der Seite eingebunden haben und auf dem ich die vielen Themen und offenen Fragen illustriert habe.

    Sahra Rausch Du arbeitest ja mit uns in einem weißen Team und auch unserem Arbeitskontext in Thüringen sind BIPoCs unterrepräsentiert. Dürfen wir Dich fragen, wie das Deine Arbeit beeinflusst?

    Patricia Vester Als Artist in Residence war zunächst wichtig herauszufinden: Was ist zu tun? Aber ganz schnell ging es auch um die Frage, mit wem arbeite ich im Projekt zusammen? Und wie allein bin ich in meinem Umfeld – als Schwarze Person. Und dann überlege ich: Wen bringe ich mit? Und das hat auch viel mit Selbstschutz zu tun, denn wenn ich in weißen Kontexten arbeite, brauche ich Austausch. Mein visuelles Bild dazu sind immer meine Haare – mit all den Knoten und Locken. Und all diese Knoten und Locken sind meine Ahnen, meine Schwestern und Brüder und all die Menschen, die mich inspirieren. Sie stellen mein inneres und äußeres Team da. Und sie sind auch die Prozessbegleiter:innen für meine Projekte und nun auch unser Projekt, denn all diese Stimmen veranlassen mich, die Dinge aus diversen Perspektiven zu betrachten. Und auch deshalb freue ich mich über die Position hier, denn gerade weil ich keine Wissenschaftlerin bin, sehe ich die Dinge aus einer anderen Perspektive.

    Sahra Rausch Welches Thema, welcher Ort und welche Begegnungen waren bislang besonders wichtig für Deine Arbeit als Artist in Residence in Thüringen?

    Patricia Vester Diskriminierungsformen müssen ja auch immer intersektional betrachtet werden. Mir ist das Thema Bildungsklassismus in diesem Zusammenhang sehr wichtig. Wem steht Bildung zu? Was braucht Bildung heute? Ich finde es richtig gut, dass Historiker:innen auch mal raus aus der Uni gehen und zum Beispiel den Schulkontext adressieren. Wie im Rahmen des Workshops in Friedrichroda. Und auch Museen spielen für uns als Bildungsorte eine wichtige Rolle, um das Wissen über koloniale und postkoloniale Wissens- und Machtstrukturen zugänglich zu machen.

    Persönlich war  für mich besonders wichtig, dass ich der Anatomischen Sammlung begegnet bin. Ich habe Gespräche geführt, Menschen kennengelernt. Und auch dort ist mein Thema: Was nehme ich mit, was bearbeite ich? Für wen stehe ich hier? Wer braucht hier meine Stimme? Schließlich ist die Anatomische Sammlung auch ein Ort der Trauer, da sich dort Human Remains aus kolonialem Kontexten befinden. Ich befinde mich seitdem in einer intensiven Trauerarbeit, weil dieses Thema so mächtig ist. Das Thema hat mich… nicht überrollt…. – es ist so in mich hineingekrochen und macht was mit mir. Dazu brauche ich auch Austausch und habe den in Steven Lawson und Tupoka Ogette gefunden. Wir werden sehen, was sich daraus ergibt. Weil dieses Thema mit mir etwas macht und ich Trauerarbeit leisten muss, wünsche ich mir eine Gedenkkultur – die mir bislang nicht begegnet ist. Es muss eine Gedenkkultur für die Human Remains geben, die in verschiedenen Sammlungen und Museen liegen. Für andere Gruppen ist diese in der Anatomischen Sammlung schon etablierter, so gibt es Gedenksteine für die – freiwilligen und unfreiwilligen – Körperspenden. Für Körper aus kolonialen Kontexten gibt es das aber noch nicht.

    Sahra Rausch Was Du sagst, macht sehr deutlich, wie wichtig der Perspektivwechsel ist.

    Christiane Bürger In dieser Hinsicht bin ich Dir vor allem sehr dankbar, dass Du Dich bereit erklärt hast, Dich auch als Prozessbegleiterin einzubringen. Das ist ja in einem Artist in Residence-Projekt erstmal gar nicht vorgesehen. Dennoch bereichert es unsere Arbeit enorm, wir können auf ganz vielen Ebenen von Dir lernen. Ich wusste aber zu Beginn gar nicht so genau, was eine Prozessbegleitung in unserem Projekt sein könnte. Kannst Du das erläutern?

    Patricia Vester Prozessbegleitung der Arbeit der Koordinationsstelle bedeutet, dass ich Euch bei der Arbeit zuschaue und mir selbst zuschaue. Wem begegnen wir? Wem sind wir begegnet? In welchem Kontext findet die Arbeit statt? Worauf gilt es bei Verschriftlichungen zu achten? Auf welchen Ebenen gibt es schon Verständnis und auf welchen nicht? Was müssen wir beachten, wenn wir Universitäten, Museen, den Mitarbeiter:innen von Sammlungen Rassismuskritik im Arbeitsleben, auf Webseiten im alltäglichen Umgang nahe bringen wollen, wenn wir sie zum Umdenken anregen wollen? Wo muss die Koordinationsstelle selbst Vorreiterin sein? Und das alles steht ja auch in einem größeren Kontext, denn das Thema ist gerade omnipräsent.

    Ich finde es sehr bewegend, dass ich jetzt zum Beispiel ins Kino gehen kann und das Thema Kolonialismus verhandelt wird. Oder ins Theater. All das versuche ich gerade festzuhalten, weiterzugeben und mit dem Projekt zu teilen.

    Dem ganz inhaltlichen Output steht eine Reihe von Skizzen und Mitschriften gegenüber, die diesen Prozess, unsere Arbeitsweise und -wege, thematisieren. Diesen Output möchte ich auch unbedingt veröffentlichen, da ich mir hier mehr öffentlichen Einblick in Prozesse wünsche. Und das Thema „Prozessbegleitung“ soll dann ja auch gebündelt im Sammelband und auf der Homepage aufscheinen.

    artist in residence: @patriciavester.illustrations


    Christiane Bürger Wenn BIPoCs mit Werk- oder Honorarverträgen in Projekte eingebunden werden, steht das Thema „Tokenism“ im Raum, das unsere gemeinsame Arbeit ja auch unmittelbar betrifft. Denn auch in unserem gemeinsamen Arbeiten gibt es ja Hierarchien und Machtgefälle, die wir nicht einfach auflösen können und die auch unterschwellig wirken.  Wir haben zum Beispiel – wenn auch befristet – gut bezahlte Stellen, während Du unterfinanziert bist. Vor allem wenn man bedenkt, was Du alles in unser Projekt einbringst. Deshalb haben wir lange darüber nachgedacht, wie wir Schwarze Perspektiven einbinden können und gleichzeitig diese Schwierigkeiten selbstkritisch im Blick behalten. Und gleichzeitig sind wir uns auch darüber bewusst, dass wir ein rein weißes Team mit vielen blinden Flecken sind, dem damit zwangsläufig Wissen über die Themen fehlt, die wir in unserem Projekt adressieren.

    Aber vielleicht kannst Du dazu auch noch einmal Deine Haltung erläutern. Und vielleicht sollten wir auch für die Leser:innen nochmal erklären, was Tokenism genau ist und warum das ein Problem ist.

    Patrcia Vester Zuerst: In meiner Zeit als Artist in Residence möchte ich auch alles dafür tun, das es kein Token-Ding wird. Tokenism meint in unserem Kontext: Die nicht honorierte Inanspruchnahme und Ausbeutung von BIPoC–Wissen, von BIPoC-Kultur; von Kraft, Energie, Sorge und Care-Arbeit – das kann so viele Ebenen an Ausbeutung umfassen. Das Grundproblem steckt darin, wenn BIPoC Menschen in weiße Kontexte gestellt und da dann verheizt werden. Diese Ausbeutung steht im Raum, darüber müssen wir sprechen, wenn wir ihr begegnen. Es braucht unbedingt BIPoC Prozessbegleitung, wenn es darum geht koloniale Aufarbeitung postkolonial und dekolonial zu verhandeln und zu betrachten und es braucht eine Prozessbegleitung für die Prozessbegleitung, wenn sie allein angestellt ist oder gleich ein Team. Das ist wirklich wichtig und das möchte ich auch an alle weitergeben, die an dem Thema arbeiten wollen: Es braucht immer mehr als eine Person – egal ob im Museum oder in anderen wissenschaftlichen Kontexten. Und das sollte schon bei der Konzeption von Projekten mitgedacht werden. Und natürlich sollte diese Person auch adäquat bezahlt werden.
    Das soll jetzt kein Fingerzeig auf Euch sein, aber es wäre natürlich schön, wenn solche Prozesse anders geplant werden. Prima jedoch: Hier in unserem gemeinsamen Prozess haben sich andere Finanzierungen ergeben, die das Projekt bereichern und es sind Kooperationen, wie die mit der Landeszentrale für politische Bildung, entstanden – das sind wirklich tolle Entwicklungen.

    Sahra Rausch Leider ist die Sichtbarmachung und Reflexion von Prozessen wirklich nicht etabliert. Obwohl es schon so lange Forschung darüber gibt, die die jeweilige Verortung der forschenden Person ins Zentrum rückt. Wir wissen um die Situiertheit von Wissen und fragen uns doch viel zu selten: Was kommt meine Wissensproduktion zustande und was macht meine forschende Tätigkeit eigentlich aus?
    Stattdessen wird die vermeintliche Neutralität der Forschung weiterhin als unumstößlicher wissenschaftlicher Wert hochgehalten. Und Unwissenheit – in allen unseren Arbeitskontexten – wird als Problem markiert. Am Ende steht nur der fertige Artikel, das Forschungsergebnis, der Output. Und für mich persönlich ist es wirklich wertvoll, diesen Prozess sichtbar zu machen und die eigenen Unzulänglichkeiten zu reflektieren. Das ermöglicht erst die Selbstreflexion und die Etablierung einer Fehlerkultur. Das ist wichtig für unser Projekt, betrifft aber den ganzen Wissenschaftsbetrieb.

    Patricia Vester Genau. Wir sprechen nicht über das Ungesagte, Ungeschriebene, Unwissenschaftliche. Das Zugeben von Unwissenheit, die Suche nach etwas, das wir noch nicht kennen – das ist ein wichtiges Thema für uns. Und ich wünsche mir auch, dass wir und andere diesen Prozess, das Nichtwissen um den Umgang mit Restitution, Ratlosigkeiten, Entwicklungen, künstlerische Herangehensweisen sichtbar machen. Ich will das sehen. Es ist „work in progress“ und eben nicht starr. Es gibt ja dieses Sprichwort „Der Weg ist das Ziel“ – aber über diesen Weg sprechen wir nie, den bebildern wir nie. Und so kann niemand nachvollziehen, wie mensch eigentlich ans Ziel kommt – schlimmer noch, wo auf welchem Weg sich Instiutionen, Museen, Vereine, Häuser befinden. Wenn ich aber ihre Webseiten betrachte, Literatur finde, Universitäten besuche etc. möchte ich sehen, ob eine rassismuskritische Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe stattgefunden hat. Ist dieses Haus, diese Institution auf dem Weg?

    Christiane Bürger Das liegt sicherlich auch daran, dass in der Wissenschaft und Wissenschaftskommunikation die Einbindung von künstlerischen Positionen noch immer unüblich ist. Zu Beginn des Projekts wussten wir gar nicht so recht, was wir erwarten, wie das funktioniert und welche Möglichkeiten sich in der gemeinsamen Arbeit auftun. Es gab keine Anleitung und wir lernen im Prozess, wie man so eine Chance zum Perspektivwechsel in unsere Strukturen einflechten kann. Wir lernen also nicht nur inhaltlich, sondern auch in der Umsetzung ganz viel dazu.

    Patricia Vester Und um diese Prozesse sichtbar zu machen, müssen wir ganz unmittelbar dafür sorgen, dass wir Transparenz schaffen. Alle googeln sich gegenseitig und daher gehen wir jetzt mal die Homepage an. Ich möchte da lesen, dass wir auf dem Weg sind. Bildungsarbeit fängt bei uns selbst an. Wenn wir Bildungsarbeit und wissenschaftliche Arbeit leisten wollen, dann müssen wir erstmal eine kritische Selbstreflexion voranstellen.

    Ich kann mir ein HOW TO zur Zusammenarbeit mit einem Artist in Residence vorstellen, etwas zum musealen Umgang mit Human Remains in Zusammenhang mit der bisherigen Geschichte dazu und etwas zur Thematik: Webseiten und rassismuskritische Sprache…


    Patricia Vester

    Illustration _ Empowerment _ Konzepte_ Diversity Trainings _ Prozessbegleitung (mit Team)

    AKTUELLE PROJEKTE

    ARTIST IN RESIDENCE 2023 für die Unis Jena und Erfurt für die Koordinierungsstelle Koloniales Erbe Thüringen KET: Illustration + Prozessbegleitung + Seminare + Schulworkshops 

    Stiftung Preußische Schlösser und Gärten: Ausstellungsintervention + Entwicklung, Ausbildung & Umsetzung rassismuskritischer Führungen im Schloss Charlottenburg + Schulworkshops + Prozessbegleitung & Teamtag: Rassismuskritisch Denken lernen/Museum heute 

    Antidiskriminierungsberatung Brandenburg Opferperspektive e.V.: Empowerment Works

    KONTAKT & ANFRAGEN 

    patricia vester
    phone: 015203798296 mail: patriciavester247[at]gmail.com
    Insta: @patriciavester.illustrations
    Agentur: Literatur Agentur Arteaga

    VERÖFFENTLICHUNGEN

    Brücke-Museum / Stiftung Deutsches Technikmuseum Berlin / Stiftung Stadtmuseum Berlin / Daniela Bystron / Anne Fäser (Hg.): Das Museum dekolonisieren? Kolonialität und museale Praxis in Berlin, Bielefeld 2022.

    Tupoka Ogette: Tag für Tag aktiv gegen Rassismus, illustriert von Patricia Vester, Random House Verlag/penguin books, 2023.