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Dr. Florian Wagner

Akademischer Rat für Europäische
Geschichte in Globaler Perspektive,
Universität Erfurt

Foto: Jürgen Scheere/Universität Jena

1 | An welchem Projekt arbeiten Sie gerade und welche Rolle spielt dabei das „koloniale Erbe Thüringens“?

Ich arbeite an einer Geschichte von Beziehungen zwischen selbsternannten Kolonialexpert*innen, die im 19. und 20. Jahrhundert enge Kontakte über nationale und koloniale Grenzen hinweg pflegten. In mehreren Aufsätzen und in einem Buch vertrete ich schon die These, dass nicht nur die nationalistischen Kolonialtheoretiker*innen, sondern vor allem die „transimperial“ tätigen Kolonialpraktiker*innen die Kolonialpolitik prägten. Überraschend viele von ihnen kamen aus Thüringen. Zudem interessiere ich mich für antikoloniale Netzwerke und auch hier lassen sich einige Spuren in Thüringen finden. Konkret entsteht gerade eine wissenschaftliche Monographie zu „Transimperialität“ und ein Lehrbuch zum Thema Kolonialismus und Dekolonisierung. Letzteres verbinde ich auch mit einem Buchprojekt zur Geschichte von Migration und erzwungener Remigration zwischen 1945 und 2000, bei denen koloniale Strukturen fortdauern.

2 | Wie sind Sie mit (post-)kolonialen Fragestellungen erstmals in Kontakt gekommen und warum haben Sie sich entschieden, dazu weiterzuarbeiten?

Als Student in Frankreich war ich an der Universität in Aix-en-Provence, wo auch die französischen Kolonialarchive sind. Trotz einer Vorselektion von Akten zeigt der Bestand dort ganz offen die Brutalität des Kolonialismus. Das Thema Kolonialismus war zudem auch Anfang der 2000er in Frankreich schon viel präsenter als in Deutschland. Seitdem war ich in über 25 Kolonialarchiven und habe 15 Jahre zum Thema geforscht. Die postkolonialen Ansätze ergaben sich fast automatisch aus der Absurdität des kolonialen Projekts, die in den Archiven mit jeder Aktenbestellung klarer hervortrat.

3 | Warum ist die Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit ein wichtiges Forschungsthema?

Weil sie viele der auch heute noch virulenten Ungerechtigkeiten in der Welt offenlegt. Ich kann eigentlich als weißer Mann aus Europa die Diskriminierung und Ausbeutung, die ein Großteil der Menschen erleiden musste, niemals ganz nachvollziehen. Die Beschäftigung mit der Geschichte von kolonialer Gewalt und rassistischer Diskriminierung kann aber wenigsten einen kleinen Einblick geben. Im Kolonialismus gab es neben dem offenen Vernichtungswillen auch sehr subtile Formen von Diskriminierung und struktureller Benachteiligung, die nicht auf den ersten Blick erkennbar sind. Durch die Beschäftigung mit der kolonialen Vergangenheit lernt man wie subtile Strukturen von Ungerechtigkeit und Diskriminierung große Wirkung haben können.

4 | In welchen Bereichen sind die Forschungslücken besonders groß und wo sehen Sie besonderen wissenschaftlichen/wissenschaftspolitischen Handlungsbedarf?

Zunächst gibt es eigentlich schon recht viel Forschung zur Kolonialgeschichte, auch in Thüringen. Wichtig ist eher, dass europäische Forscher*innen sich permanent selbst hinterfragen, ob ihre Herangehensweise zu belastbaren Ergebnissen führen. Wie viele andere Forschungen, so hat meine eigene Studie gezeigt, dass Kolonialismus praktisch alle Wissensfelder und Denkweisen prägte, die sich seit dem 19. Jahrhundert in Europa entwickelten. Egal ob in der Literaturwissenschaft, im Völkerrecht oder in der (für Thüringen bedeutenden) Botanik. Mit unserer Ausdrucksweise, unserer Erkenntnismethode und unseren Analysetools stehen wir in dieser eurozentrischen Tradition und müssen hart arbeiten, um sie zu überwinden. Unsere „Betriebsblindheit“ gilt nicht nur für Historiker*innen und kann eigentlich nur abgelegt werden, wenn uns Menschen aus den ehemaligen Kolonien in unseren Erkenntnisprozessen beraten. Dafür muss die Politik die Grundlage schaffen.

5 | Was macht den Standort Thüringen für Sie zu einem spannenden Forschungskontext in Bezug auf das „koloniale Erbe“?

Ganz einfach: das koloniale Erbe. Dies ist in Thüringen vielleicht sogar noch umfangreicher als anderswo. 50% der Museen haben angegeben, Bestände aus kolonialen Kontexten zu haben. Als Historiker*in entdeckt man quasi wöchentlich neue Themen, die etwas mit Kolonialismus zu tun haben. Im Rahmen der Bundesgartenschau 2021 in Erfurt hätte man zum Beispiel viel zum kolonialen Gartenbau sagen können und sogar müssen. Oh, ein neues Projekt…



Dr. Florian Wagner

Akademischer Rat für Europäische
Geschichte in Globaler Perspektive,
Universität Erfurt