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Der Gorilla
aus dem Phyletischen
Museum | Jena

Bastienne Karg

Ein Gorilla steht am Ende eines Saales im Phyletischen Museum in Jena. Die Filztüren mit den ausgestanzten Buchstaben EVOLUTION verweisen auf die Thematik des Saales.

Foto: Bastienne Karg

Aufrecht mit einem Stock in der Hand, die Knie durchgedrückt, das Maul weit aufgerissen, die Zähne zeigend, präsentiert sich der Gorilla dem Besucher.

Aber was hat es mit ihm auf sich?

Keine Tafel, keine Erläuterung bindet ihn in den musealen Kontext ein.

Eine Reise durch zahlreiche Archivalien beginnt beim Inventarbuch des Phyletischen Museums

Inventarbuch des Phyletischen Museums, Jena, fol. 201 f.
Ausschnitt des Eintrages im Inventarbuch des Phyletischen Museums, Jena, fol. 201f.

1909. 16. Februar | Gorilla gigas, Ausgewachsener Mann Das grösste, bis jetzt bekannte Exemplar | Kamerun 1908 (Ausgestopft von Umlauff (Hamburg)) | Geschenk von Frau Geheimrat Elisabeth Meyer, geb. Haeckel in Leipzig, Haydn-Str. 20 | Geburtstags-Geschenk für ihren 75jährigen Vater, Prof. Dr. Ernst Haeckel, der nach 48jähriger Lehrtätigkeit in Jena am 12.2.09 sein Amt niederlegt.[1]

Welch spezielles Geburtstagsgeschenk?!

Bei dem Beschenkten handelte es sich um Ernst Haeckel (1834-1919), der die erste Professur für Zoologie an der Universität Jena innehatte und dort 48 Jahre lang dozierte. Noch bevor dessen wissenschaftliche Karriere begann, las er On the Origin of Species von Charles Darwin (1809-1882). Die darin beschriebene Evolution der Lebewesen bewegte Haeckel maßgeblich und die Evolutionstheorie wurde zum Leitgedanken seiner wissenschaftlichen Laufbahn. Seine populärwissenschaftlich ausgerichteten Publikationen und Vorträge trugen zur Verbreitung der Evolutionstheorie im deutschen Raum bei und entfachten heftige Diskussionen. Im Gegensatz zu Darwin sprach Haeckel von der evolutionären Abstammung des Menschen. [2]

Zur Veranschaulichung entwarf er Visualisierungen, wie etwa den „Stammbaum des Menschen.“ Hierbei verortete er den Menschen an der obersten Spitze des Baumes.

Systematischer Stammbaum des Menschen, in Haeckel, Ernst: Anthropogenie oder Entwicklungsgeschichte des Menschen 2, Leipzig: Engelmann, 1891, Tafel XV (S. 472 und 473).

Zur Veranschaulichung entwarf er Visualisierungen, wie etwa den „Stammbaum des Menschen.“ Hierbei verortete er den Menschen an der obersten Spitze des Baumes.

Im Stamm zeichnet er die Moneren, die Einzeller, ein und lässt verschiedene Entwicklungsstufen von Lebewesen den Baum entlang nach oben verzweigen. Direkt unterhalb des Menschen sehen wir, dass Haeckel den Schimpansen, Gorilla, Orang und den Gibbon auf einer Ebene einzeichnete. Die Positionierung verweist auf eine nahe Verwandtschaft und einen gemeinsamen Vorfahren, wie anhand der Verästelung mit der Beschriftung Anthropoiden (Menschenaffen) abzulesen ist.

Zusätzlich entwarf Haeckel auch rassenkundlich geprägte Behauptungen, indem er zum Beispiel den Menschen anhand von Äußerlichkeiten hierarchisierend in „niedere“ und „höhere“ Gruppen einteilte.

Solche und weitere Argumentationsmuster entwarf Haeckel zu einer Zeit als der eurozentrisch geprägte Überlegenheitsgedanke den Kolonialismus in seiner vollen Gänze der Grausamkeit legitmierte. Heute ist zu beobachten, dass Haeckel und sein Werk in Abhängigkeit der vorherrschenden Ideologie gewertet wird.

Zurück zum Gorilla

In der eurozentrisch ausgerichteten Wissenschaftspraxis des 19. Jahrhunderts wurde der Gorilla erst 1847 als eigene Gattung beschrieben und nahm gepaart mit der Evolutionstheorie eine bedeutende Rolle ein.[3] Naturwissenschaftler:innen der westlichen Welt versuchten möglichst viele Informationen zum Gorilla in Erfahrung zu bringen, um die neue Gattung näher spezifizieren und neue Arten bestimmen zu können.[4] Hierfür wurden Abbildungen, Fotografien und Berichte von Gorillas ausgetauscht.

Und Gorillas erlegt, konserviert, gehandelt, untersucht und präpariert.

Die folgende Fotografie hält die Situation einer Gorillajagd um 1900 fest:

Johannes Umlauf med jaktsällskap, och skjuten gorilla […] -Johannes Umlauf mit Jagdgesellschaft und erschossenen Gorilla […], Göteborgs Naturhistoriska Museum.

Der Mann mit dem Kolonialhelm, Johannes Umlauff, hatteim Übrigen Haeckels Gorilla präpariert. Er übernahm mit seinen Brüdern Wilhelm und Heinrich die Naturalienhandlung J. F. G Umlauff, die einst deren Vater in Hamburg gegründet hatte.

Wilhelm Umlauff brachte sich als Tierbildhauer ein, Heinrich Umlauff war für die szenische Gestaltung sowie museale Inszenierung verantwortlich und sollte später die Filme von Fritz Lang (1890-1976) mit Requisiten und Bühnenbildern ausstatten. Die Konservierung und Präparierung übernahm Johannes Umlauff, der als Kind träumte, „Gorillajäger“ zu werden.[5] Sein Kindheitstraum erfüllte sich, wie wir auf der Fotografie sehen können.

Wir sehen aber nicht nur J. Umlauff als „Gorillajäger“, sondern erkennen auch kolonialistisch geprägte Strukturen.

Die Unterschiede in Bekleidung und Ausrüstung markieren eine hierarchisierende Differenz zwischen J. Umlauff und den Schwarzen Menschen. Lediglich ein Afrikaner ganz rechts trägt ebenfalls einen Hut, Gewehr sowie ein Fernglas. Wahrscheinlich handelte es sich um die „rechte Hand“ von J. Umlauff, während die anderen vermutlich als Treiber beteiligt waren. Lediglich J. Umlauff wird bei der Beschreibung auf der Fotografie namentlich genannt, die Identitäten der anderen Personen sowie deren Lebensumstände erfahren wir nicht.

In der Darstellung werden somit zeitgenössische kolonialistische Paradigmen sichtbar und das „Zivilisierte“ wird dem „Unzivilisierten“ gegenübergestellt. Die Positionierung des Gorillas als Schneide dieser ‚Zivilisierungsmission‘ kontrastiert das koloniale Projekt auf eine bizarre Art und Weise. zudem potenziert das Festhalten dieses Momentes durch den Akt des Fotografierens den Kult der Trophäenjagd.

Welche Auswirkungen dieses Eingreifen auf die Natur, Kultur und Gesellschaft vor Ort haben wird, blieb indes außer Acht und fügt sich in das Bild des Kolonialismus und zeigt den Zusammenhang von Kolonialen Forschen und Sammlungspraktiken mit dem eurozentrischen Überlegenheitsgedanken auf.

Ob es sich bei dem erlegten Gorilla, um den Gorilla handelte, den Haeckel als Geschenk erhielt, bleibt fraglich.

Von der Firma Umlauff ließ sich Haeckel auch eine Genehmigung zum Druck von Fotografien aus der Broschüre Der Riesen-Gorilla des Museum Umlauff Hamburg. Schilderung seiner Erlegung und wissenschaftliche Beschreibung erteilen.[6]

Für den hierin beschriebenen Gorilla wählte die Firma Umlauff eine Präparierung in einer aufrecht drohender Haltung. Die Präparierung und Erstellung des Berichtes weisen auf eine kommerziell ausgerichtete Vermarktungsstrategie hin, welche durch eine Tournee des Präparates durch zahlreiche Städte ergänzt wurde.[7] Aus der Broschüre übernahm Haeckel die Angaben zum Gorilla und schrieb in seinem Buch Keimesgeschichte des Menschen – Erster Teil der Anthropogenie:[8]

Dieser Riesengorilla (Gorilla gigas, Fig. 243, 244) ist 2 Meter und 7 Centimeter lang; die Spannweite seiner kolossalen Arme beträgt 280 Centimeter; sein gewaltiger Brustkasten ist doppelt so breit als derjenige eines starken Mannes. Der gesamte Körperbau dieser großen Menschenaffen ist demjenigen des Menschen nicht nur höchst ähnlich, sondern im Wesentlichen derselbe.[9]

1907: Haeckel erfüllte sich seinen Traum eines Museums

Als Haeckel 1879 das British Museum of Natural History in London besuchte, hatte er die Idee ein Museum zu gründen, in welchem eine vielseitig ausgestattete Schausammlung alle auf die Deszendenztheorie und den Darwinismus bezüglichen Erscheinungen durch Bilder und Präparate erläutern und dem gebildeten Publikum zugänglich machen sollte. Anschließend besuchte er ein zweites Mal sein Vorbild Darwin und berichtete ihm von seinem Gedanken, den Darwin begeistert befürwortete.

Knapp ein Vierteljahrhundert später, 1907 gründete Haeckel das Phyletische Museum. Ein Jahr später war der Bau angeschlossen und die leeren Räume mussten mit der Schausammlung bestückt werden.[11]

Eine Postkarte zeigt Haeckel neben eines seiner ersten Exponate

Bestand: Zool. Mus., Signatur: S II, Haeckel, E., Blatt 55v

Lässig steht Haeckel auf dem Hocker mit verschränkten Armen und blickt den Betrachter direkt an. Neben ihm steht s e i n Riesengorilla, das bis dato „größte Exemplar“, präpariert in einer unnatürlichen Pose auf einem steinimitierenden Sockel in einer verglasten Vitrine.

In Haeckels Haltung zeichnet sich das Selbstvertrauen und der Stolz einer Person ab, die sich als Akteur der Wissenschaft versteht und in dieser Rolle der Bevölkerung die Evolutionstheorie näherbrachte. Symbolisch wird dieser Umstand unterstrichen, indem er im Besitz des größten Riesengorillas ist, den er erst sechs Jahre zuvor als neue Art in seinem Buch Keimesgeschichte des Menschen beschrieben hatte.

Bestand: Zool. Mus., Signatur: S II, Haeckel, E., Blatt 55v

Die Beschriftung unter der Fotografie nennt im Gegensatz zum Inventarbuch nicht die Tochter Elisabeth Meyer als Schenkende. Stattdessen wird lediglich ihr Ehemann Hans Meyer, der den gesamten Ankauf organisierte, aufgeführt. Wohl musste ihr Namen aus Platzgründen weichen, um den Beschenkten Prof. Ernst Haeckel nennen zu können.[12]

Foto: Bastienne Karg

Heute lädt die Spiegelung der Vitrine, in der heute der Gorilla steht, den Besucher zur Reflektion von historischen Denkmustern ein.


Die Autorin, Bastienne Karg, ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Ernst-Haeckel-Haus für die Geschichte & Philosophie der Naturwissenschaften mit dem Schwerpunkt Lebenswissenschaften an der Fakultät für Biologie, Institut für Zoologie und Evolutionsforschung.


[1]Katalog des Zoologischen Institutes, Phyletisches Museum, fol. 201 f., https://digicult2.thulb.uni-jena.de (nicht öffentlich verfügbar).

[2]Zu Haeckels Biografie, s. Haeckel, Ernst: absolute Ernst Haeckel, hg. von Uwe Hoßfeld, Freiburg im Breisgau: Orange Press 2010; Uschmann, Georg: Ernst Haeckel: Biographie in Briefen, Leipzig: Urania-Verlag 1983; Wulf, Andrea: „Kunst, Ökologie und Natur: Ernst Haeckel und Humboldt“, in: Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur, München: C. Bertelsmann 2016, S. 372–391, Theresa Thieme, Hrsg., Haeckel backstage in Jena: Menschen – Orte – Begegnungen, Jena : Stadtmuseum 2019, 10–25.

[3]Groves, Colin P.: „A history of gorilla taxonomy“, in: Taylor, Andrea B. und Michele L. Goldsmith (Hrsg.): Gorilla Biology: A Multidisciplinary Perspective, Cambridge [u.a.]: Cambridge University Press 2002, S. 15–34, hier S. 16.

[4]Ebd., S. 16–22; Cooper, John E. und Gordon Hull: Gorilla Pathology and Health: With a Catalogue of Preserved Materials, London: Academic Press 2017, S. 365–368.

[5]Lange, Britta: Echt. Unecht. Lebensecht: Menschenbilder im Umlauf, Berlin: Kulturverl. Kadmos 2006, S. 85, 88.

[6]Brief von Johannes Umlauff an Ernst Haeckel vom 24.03.1903 „Online-Projekt ‚Ernst Haeckel (1834-1919): Briefedition‘“, ID: 46541.

[7]Lange: Echt. Unecht. Lebensecht, S. 88; Lange, Britta: „Die Allianz von Naturwissenschaft, Kunst und Kommerz in Inszenierungen des Gorillas nach 1900“, in: Zimmermann, Anja (Hrsg.): Sichtbarkeit und Medium: Austausch, Verknüpfung und Differenz naturwissenschaftlicher und ästhetischer Bildstrategien, Hamburg: Hamburg Univ. Press 2005, S. 183–210, hier S. 191.

[8]vgl. Haeckel, Ernst: Keimesgeschichte des Menschen – Erster Teil der Anthropogenie, Bd. 1, 5., umgearb. und verm. Aufl Aufl., Leipzig: Engelmann 1903, S. 426–430.

[9]Ebd., S. 426 f.

[10]Cooper/Hull: Gorilla Pathology and Health, S. 367 f.

[11]Fischer, Martin Stephan, Gunnar Brehm und Uwe Hoßfeld: Das Phyletische Museum in Jena, Jena: Inst. für Spezielle Zoologie u. Evolutionsbiologie 2008, S. 1, 21f, 30f.

[12]Brief von Hans Meyer an Ernst Haeckel vom 31.03.1909 „Online Briefedition“ ID: 35709 (Transkript noch nicht online einsehbar).